336 MACH, WAS DIR BELIEBTI ... Die Frage selbst war ebenso gefordert wie jenes Etwas, doch war sie auch schon (vor)gegeben. Notwendig war allerdings, daß jemand, irgend jemand, aber nicht alle Welt, dieses Etwas hervorbringt, irgend etwas, etwas Beliebiges, und es uns vor die Nase stellt, damit wir alle uns der Frage bewußt werden. Auch war es ebenso notwendig, daß jemand, irgend jemand oder vielleicht sogar alle Welt sich die Frage bereits gestellt hat, damit wir alle uns gleichsam die Nase platt drücken an diesem Etwas, ganz unversehens, und vor ihm stehen wie vor einer vollendeten Tatsache. Nun stehen wir da: vor der Moderne als einer vollendeten Tatsache. Aber sie ist nicht deswegen vollendet, weil das Ready-made die Frage nach den notwendigen und hinreichenden Bedingungen der Kunst beantwortet. Dies war die Befürchtung Greenbergs, und sie erklärt seinen Widerstand. Wäre sie gerechtfertigt, so müßten wir alle sie teilen. Wir wüßten in diesem Falle, daß etwas Beliebiges nur dann Kunst sein kann, wenn es auch tatsächlich etwas Beliebiges ist. Und Duchamps Geste, die in gewisser Weise von Ad Reinhardt und Kosuth wiederholt worden ist, hätte lediglich den fahlen Glanz einer Suche und einer Forderung, die sich endgültig als unfruchtbar erwiesen haben. Sie hätte die große Frage der Modernität in der Weise beantwortet, wie sie der Modernismus gestellt hat, nämlich ontologisch. Am (vorweggenommenen) Endpunkt einer reductio ad absurdum des Greenbergschen Formalismus hätte sie gezeigt - ebenso sichtbar wie einsichtig gemacht-, daß das Wesen der Kunst etwas Beliebiges ist. Das Ready-made aber zeigt nichts, nicht einmal sich selbst, denn es will, daß man auf es zeigt: Dies ist Kunst. Ohne das hinweisende »Dies« gibt es keine Kunst. Das Ready-made macht weder etwas sichtbar noch einsichtig, heute sowenig wie damals im Jahre 1917. Es beläßt uns vor ihm in unserer Blindheit. Wir, die Betrachter, welche die Bilder machen, sind und bleiben The Blind Man.1 Das Ready-made offenbart uns nicht, worin das Wesen der Kunst besteht, ebensowenig aber offenbart es uns, daß es kein Wesen der Kunst gibt. Es überläßt uns unserer Unwissenheit. Es klärt uns nicht auf über die notwendigen und hinreichenden Bedingungen, unter denen ein beliebiger, ja ein absolut beliebiger Gegenstand als Kunst gilt. Es tut uns aber auch 1 The Blind Man ist eine kleine Zeitschrift, die 1917 von Mareel Duchamp, Henri-Pierre Roche und Beatrice Wood herausgegeben worden ist. Sie hat lediglich zwei Nummern erreicht (April und Mai), die iieh beide um die 1ndependent~ Show drehten, zu der Duchamp seine berühmte und ehrenrühnge Fontaine unter dem Pseudonym R. Mutt eingereicht hatte. Aufdem Umschlag der ersten Nummer befand sich eine Karikatur, die einen Blinden zeigte, der von einem Hund durch eine Gemäldegalerie geführt wird. Inder zweiten Nummer war ein unsigniertes Editorial abgedruckt mit dem Titel The Richard Mutt Case~, welches für die Wahl von Mr. Mutt Stellung bezog. (Vgl. Kapitel 2 in diesem Buch) MACH, WAS DIR BELIEBT! 337 nicht kund, die Kunst sei frei von Bedingungen. Es läßt uns mit unserem Nichtwissen und unserer Verantwortung allein. Wenn es uns etwas sagt, und es sagt uns zweifelsohne etwas, dann folgendes: Kunst gehört weder in den Bereich des Sehens noch des Wissens, sie gehört in den Bereich des Urteilens, sie gehört nicht in die Ordnung des Beschreibenden, sondern in jene des Vorschreibenden. Konditional und immanent fehlinterpretiert schrieb die Moderne vor: In der Kunst kannst Du machen, was Dir beliebt, aber nur in der Kunst. Jawohl, in der Kunst gibt es eben nur Urteile. Machen heißt urteilen und urteilen heißt machen, und dieses Urteil beinhaltet eine Verpflichtung. Kunst machen heißt urteilen, nicht darüber, was als Kunst gelten kann, sondern was als Kunst gelten muß, nicht darüber, was Kunst ist, sondern was Kunst sein soll. Das beste Urteil ist wie immer jenes des Laien, der angesichts des Ready-made ausruft: Man muß es bloß machen! Und es ist gemacht worden. Das Ready-made gibt es, fixundfertig, ausgewählt, beurteilt. Mene, Tekel, Upharsim. Doch was bleibt heute von ihm, da wir vor ihm als einer vollendeten Tatsache stehen? Was bleibt, wenn gegeben ist, daß das Urteil bereits gefällt wurde? Der bedingungslose Imperativ: Man muß! Das Gebot »Mach irgend etwas, wenn nur , die zweite Fehlinterpretation des Imperativs der Moderne, läßt sich jetzt noch im Hinblick auf etwas Transzendentes interpretieren. In diesem Fall ist die Bedingung dafür, daß etwas Kunst ist, der Kunst äußerlich. Je nach Art und Struktur dieser Bedingung, je nach dem Realitätsbereich, in dem sie ausschlaggebend ist, führt das Gebot zu regionalen Eigenheiten, bestimmbaren Stilen oder besonderen Theorien der Modernität. Mach, was Dir beliebt, wenn es nur schön, wenn es nur gut gemacht, wenn es nur sinnvoll, wenn es nur ein Ausdruck Deiner selbst oder Deiner Zeit ist. Das sind schwache und konservative Spielarten der Moderne. Doch es gibt auch andere: Mach, was Dir beliebt, wenn es nur schockiert, wenn es nur enttäuscht, wenn es nur unsinnig ist, wenn nur Dein Unbewußtes oder jenes Deiner Zeit zum Ausdruck kommt, wenn es nur diffizil oder hermetisch, wenn es nur neu ist. Das sind starke und avantgardistische Spielarten der Modernität. Jede dieser Spielarten hat ihre Glanzzeit erlebt, jede hat noch heute ihre Anhänger, alle aber befinden sich gegenwärtig in einer Krise, so als ob sie alle zusammen ihre entscheidende Phase und ihren kritischen Punkt erreicht hätten. Dem Künstler präsentieren sich diese Spielarten als ein Angebot an verschiedenen Stilen, von denen keiner mehr derart zu überzeugen vermag, daß er sich aufdrängen würde. Dem Kunstkritiker wiederum präsentieren sie sich als eine Sammlung von Theorien, von denen jedoch keine mehr die nötige Kraft hat, einen Positionsbezug zu veranlassen. 340 MACH, WAS DIR BELIEBT! ... Gewiß, Warhol verdient mehr als nur eine Untersuchung seiner Absichten. Und zudem war er gar kein Opportunist. Doch der Schatten seines Erfolgs fällt noch heute über eine ganze Künstlergeneration, die sich weder so schizophren zu geben weiß noch auf so hypersensible Weise unsensibel ist wie er, und die an der funktionalen Rolle, welche ihr der sein Gesetz kontinuierlich verfestigende Markt zuweist, bald leidet, bald Gefallen findet. Was Warhol als »cool desire« bezeichnet hat (»1 want to be a machine«), ist zur pathetischen Realität geworden. Diese Realität, die sowohl das hysterische Leiden eines Schnabel bewirkt wie das perverse Wonnegefühl eines Salle, ist leicht zu interpretieren. Sie interpretiert sich sogar selbst bis zum Überdruß in jenen Zeitschriften, in denen sich der Glamour der Kunstwelt im Vierfarbendruck zur Schau stellt. Nichts Spektakuläres mehr bieten die Künstler den Liebhabern; der ganze Kunstmarkt inszeniert sich für sich selbst als Spektakel. Was sich dagegen nicht selbst interpretiert, ist das Pathos dieser Realität; es drückt sich aus, das ist alles. Vielleicht kann seinetwegen dem Wiederauftauchen des Expressionismus ein symptomatischer Sinn verliehen und sein zwanghafter Charakter daraus erklärt werden; selbst aber hat dieses Pathos keinen Sinn. Soweit es zum Ausdruck kommt, ist es das Empfinden des Gesetzes, das Empfinden, dem Marktgesetz, dem allgemeinen Tauschgesetz und dessen Rache ausgeliefert zu sein. Es ist aber auch, soweit es als Imperativ auftritt, das Empfinden oder das Ahnen eines andern Gestzes, der notwendige Anruf einer andern Allgemeinheit sowie die Mahnung, daß wir noch immer, trotz all der Wünsche nach Postmodernismus, unter der Notwendigkeit des Imperativs der Moderne stehen: Mach, was Dir beliebt. Punkt. Ohne jegliche Bedingungen. Mach, was immer Dir beliebt. Dies war der Imperativ des Ready-made, und das Ready-made ist nicht die Brillo Box. Von der Pop- und der Minimal Art stammt nämlich die letzte der einander ablösenden Rezeptionen des Dadaismus ab, jene, aus der die konzeptuelle Kunst hervorging und deretwegen diese sich in eine Sackgasse manöverierte, jene, die heute als Warengesetz wiederkommt, um Rache zu üben. Sie ist einerseits durch die Gestalt Warhols und andererseits durch das Wiederaufleben des Expressionismus, diesen Beinahe-Zeitgenossen Dadas, überdeterminiert. Was bleibt von ihr heute? Eine schwache und liberale Version von »Mach, was Dir beliebt, wenn nur«, das Phantom einer Utopie, an das einige naiv ihre letzten Hoffnungen klammern und das sie Pluralismus nennen. Doch es bleibt auch eine starke und beinahe faschistische Version von »Mach, was Dir beliebt, wenn nur«, welcher sich manche - wieder andere, aber nicht durchwegs - verschrieben haben und die man Simulation nennen kann; in Wirklichkeit aber heißt diese Zynismus, MACH, WAS DIR BELIEBT! 341 Hoffnungslosigkeit und Verantwortungslosigkeit. Überaus viel bleibt also, denn auch diese beiden Versionen, die schwache und die starke, umfassen fast das ganze künstlerische Milieu. Aber weil beide falsch und ungerecht sind, bleibt von ihnen nichts. Der Zynismus ist ungerecht, da er sich immer auf die Seite der Macht stellt. Er ist zwar nicht falsch, er sagt einfach, der Stärkere habe immer recht. Die Verantwortungslosigkeit ist ungerecht, denn sie lehnt es ab zu urteilen. Und die Hoffnungslosigkeit ist echt, doch ist es ungerecht zu verlangen, daß alle Hoffnung verschwinden soll. Was den Pluralismus anbetrifft, so ist er nicht ungerecht, aber falsch. Er ist großzügig, und er birgt noch Hoffnung. Er verteidigt Freiheiten, jene illusorischen jedoch, die zu etwas ermächtigen, also relative und relativistische Freiheiten, die man sich heraus-nimmt, wenn alles erlaubt ist. Alles aber ist nicht erlaubt. Vielleicht wäre dies zwar gerecht, doch ist es nicht wahr. Wahr ist, daß alles erlaubt sein muß. Die Freiheiten sind relativ, aber die Freiheit muß absolut sein. Das Ready-made ist pluralistisch - es gibt viele davon -, doch muß es das Allgemeine aufzeigen. Etwas Beliebiges ist nie beliebig, es muß aber danach streben, unbedingt. Und das Gebot »Mach, was Dir beliebt!« ist niemals frei von Bedingungen, doch muß es dies sein. Der Allgemeinheit des Tauschs, dem Gesetz der Realität, muß das stumme und unverständliche Gesetz der Notwendigkeit gegenübergestellt werden, welches auch die Notwendigkeit des Gesetzes ausmacht. Der Imperativ »Mach, was Dir beliebt!« ist ein kategorischer Imperativ. Hier, an der Grenze zum kategorischen Imperativ, wollen wir in der Interpretation des Beliebigen einen Augenblick innehalten. Aus der »Profanierung« des Ready-made hatte ich die Berechtigung abgeleitet, dieses für etwas Beliebiges zu halten. Nichts aber berechtigte mich dazu, es für etwas absolut Beliebiges zu nehmen. Nichts berechtigte mich, alles aber verpflichtete mich, und alles verpflichtet uns noch immer dazu. Und ich sezte sogar hinzu, daß diese Verpflichtung die Forderung des »Ganzen« ist, doch nicht des Ganzen im hegelschen Sinne. Wohlverstanden, es geht um die Allgemeinheit des Gesetzes, und da wir es hier mit Kunst zu tun haben, um die Allgemeinheit der Kunst. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten gibt Kant mehrere Formulierungen des kategorischen Imperativs; die erste lautet: »Denn da der Imperativ außer dem Gesetze nur die Notwendigkeit der Maxime enthält, diesem Gesetze gemäß zu sein, das Gesetz aber keine Bedingung enthält, auf die es eingeschränkt war, so bleibt nichts, als die Allgemeinheit eines Gesetzes überhaupt übrig, welchem die Maxime der Handlung gemäß sein soll, und welche Gemäßheit allein den Imperativ eigentlich als notwendig vorstellt. aus Thierry de Duve: Kant nach Duchamp Der ... Der höfliche Minnesänger tritt auf mit dem Anspruch, ein neues Lied zu singen; die Autoren der französischen Tragikomödie erklären, einem Bedürfl~is des Publikums nach nonveante nachzukommen11. In beiden Fällen handelt es sieh um etwas anderes als um den Neuheitsanspruch der modernen Kunst. Bei dem neuen Lied des höfl-sehen Dichters ist nicht nur die Thematik (Minne), sondern auch eine Fülle von Einzelmotiven vorgegeben; Neuheit heißt hier Variation innerhalb sehr enger, festgelegter Grenzen einer Gattung. In der französischen Tragikomo die ist zwar die Thematik nicht festgelegt, wohl aber ein Verlaufsschema, das den plötzlichen Umschwung der Handlung (Beispiel: der Totgeglaubte erweist sich als scheintot) zum Gattungsmerkmal macht. In der Tragikomödie, die dem nahekommt, was man später Unterhaltungsliteratur nennt, wird dem Verlangen des Publikums nach schockähnlichen Effekten (siirprise) bereits auf der Ebene des Strukturschemas der Gattung entsprochen; Neuheit wird als Effekt kalkuliert und eingesetzt. Schließlich ware noch ein dritter Typus von Neuheit zu nennen, den die russischen Formalisten bekanntlich zum Entwicklungsgesetz der Literatur erheben wollten: die En~euerung der literarischen Verfahrensweisen innerhalb einer gegebenen literarischen Reihe. Die automaflsierte~, d. h. als Form nicht mehr wahrgenommene Verfahrensweise, die eben darum auch keine neuartige Sicht der Wirklichkeit mehr vermittelt, wird durch eine neue ersetzt, die dies zu leisten vermag, bis diese selbst »automatisiert ist und ersetzt werden muß52. In allen drei Fällen unterscheidet sich das mit dem Begriff Neuheit Bezeichnete grundlegend von dem, was bei Adorno der Begriff zur Charaktensierung der Moderne meint Hier nämlich geht es weder um Variation innerhalb engster Gattungigrenzen (Beispiel: das neue Lied~), noch um ein Überraschungseffekte garantierendes Gattungsschema (Beispiel: Tragikomo die), noch um die Erneuerung von Verfahrensweisen snnerhalb einer literarischen Reihe; es geht nicht um Fortentwicklung, ion dern um Durchbrechen einer Tradition. Was die Kategorie des Neuen in der Moderne von früheren, durchaus legitimen, Anwendungen derselben Kategorie unterscheidet, ist die Radikalität des Bruchs mit dem bisher Geltenden... aus. Peter Bürger , Theorie der Avantgarde Und nun noch einige herzerwärmende Sätze von K. Malewitsch Der Begriff ´Neue Kunst´ist inzwischen etwas verschwommen und zunallgemein geworden . Aus diesem Grunde habe ich für das ideen und gegenstandslose Schaffen die Bezeichnung Suprematismus gewählt. Suprematismus als gegenstandlose Welt oder ´das befreite Nichts´. Ich ging dabei von dem Gedanken aus, daß alles als Nichts da war, bis sich der Mensch mit all seinen Vorstellungen , seinen Versuchen , die Welt zu erkennen, einschaltete. Damit schuf er ein Leben unter der ständigen Frage nach dem ´Was´. Der Suprematismus befreit den Menschen von dieser Frage, für deren Beantwortung er seine ganze Kraft einsetzt... aus: K. Malewitsch, Suprematismus